Berlin – Wenn Vera Meyer Antworten auf drängende Zukunftsfragen sucht, zieht es sie in Brandenburgs Wälder. An Birken oder Buchen finden die Berliner Biotechnologin und ihr Team Pilze wie den Zunderschwamm, der nun in einem Labor an der Technischen Universität kleine Wunder vollbringt.

Auf Hanf-, Pappel- oder Rapsresten gezüchtet verwandeln sich winzige Pilzfäden innerhalb von rund zwei Wochen in Baumaterial, einen Lampenschirm oder einen Fahrradhelm – ganz natürlich. Die ungewöhnliche Pilzzucht passt zum Thema des neuen
Wissenschaftsjahrs, das am 16. Januar eingeläutet wird: Bioökonomie.

Nutzung nachwachsender Rohstoffe

Klimawandel, Meere voller Plastik, schwindende landwirtschaftliche Nutzflächen und zur Neige gehende fossile Rohstoffe: Schon lange ist klar, dass es ohne ein Umdenken kaum gehen wird. Wissenschaftler wie Vera Meyer haben das Ziel, die heutige erdölbasierte Wirtschaftsform durch neue Ideen zu wandeln – hin zu einer nachhaltigen Nutzung nachwachsender Rohstoffe. Dafür steht der Begriff Bioökonomie. «Wir müssen uns alle umstellen. Aber es muss dadurch nicht unbedingt schlechter werden», betont Meyer.

Bioökonomen geht es darum, Ressourcen zu schonen und gleichzeitig den Lebensstandard zu sichern. Sie denken zum Beispiel an Mikroorganismen, die Schadstoffe abbauen, an Kerosinersatz aus Algen oder an Kunststoffe, die sich leicht zersetzen, wie es auf der Internetseite zum neuen Wissenschaftsjahr heißt. Es gebe dabei oft den Ehrgeiz, erfolgreiche Konzepte aus der Natur zu kopieren, zum Beispiel die federleichte, aber extrem widerstandsfähige Spinnenseide, die wasserabweisende Oberfläche von Lotusblättern oder die Haftkraft von Geckofüßen – und sie auf neue Produkte zu übertragen.

Grundlagenforscherin Meyer bleibt bei aller Euphorie über die Potenziale von Mikroorganismen kritisch. «Nicht alles, was biologisch hergestellt wird, ist vom Wasserverbrauch oder CO2-Fußabdruck her günstiger und auch biologisch abbaubar», schränkt sie ein. Für sie war zum Beispiel die Idee, aus pflanzlichen Lebensmitteln Kraftstoffe wie Bioethanol zu gewinnen, im Rückblick eine Sackgasse.

Viele Disziplinen arbeiten zusammen

Darum sind die Zunderschwamm-Versuche im Labor auch gerade erst der Anfang einer langen Testreihe, bei der von Materialwissenschaftlern bis hin zu Architekten viele Disziplinen eingebunden sind. Für Meyer ist das der große Vorteil gegenüber vielen Unternehmen. «Wir haben an einer großen Technischen Universität einfach alle, die wir brauchen.»

Auch Studenten ganz unterschiedlicher Fachrichtungen sprängen auf die Idee an.
«Mind the Fungi!» (Beachtet Pilze!) hat Meyer ihre Forschungswerkstatt genannt, bei der auch interessierte Bürger und Künstler mitmachen können. Mit Blick auf künftiges «Pilzdesign» holte sie eine Berliner Kunsthochschule mit ins Boot. «Schwarmintelligenz ist bei uns gefragt.» Die Forscherin kommt ursprünglich aus der biotechnologischen Grundlagenforschung. Heute erschafft sie filigrane Skulpturen aus Pilzen und stellt sie aus. Für Meyer gibt es keine harten Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst.

Von der Idee zur Bachelor-Arbeit

In ihrem TU-Labor für Angewandte und Molekulare Mikrobiologie forscht auch Bastian Schubert. Aus Zunderschwamm-Zellen und pflanzlichen Reststoffen hat er sich einen Fahrradhelm wachsen lassen. Die Idee des Biotechnologie-Studenten ist inzwischen zu seiner Bachelor-Arbeit geworden. Das Ergebnis sitzt wie ein Pilzhut auf seinem Kopf. Der Prototyp hat eine samtweiche Oberfläche und duftet leicht nach frischem Stroh.

Losradeln könnte Bastian Schubert damit noch nicht, denn sobald Wasser auf seinen Helm tropfte, würde der anfangen zu wachsen – und vermodern. Im Moment wäre seine Erfindung wahrscheinlich erst einmal eine Idee für ökologisches Schutzmaterial unter der herkömmlichen Außenhülle eines Fahrradhelms. Materialforscher müssen dazu aber noch herausfinden, ob das Naturprodukt bruchsicher und stoßfest genug ist, um DIN-Normen zu erfüllen.

«Wir stehen hier am Anfang der Prozesskette», betont Professorin Meyer. Auf ihrem Schreibtisch liegen federleichte Pilzbausteine, die ihr Team für Architekten in rechteckigen Normziegel-Formen herangezüchtet hat. Dazu kommen Pilzrollen, die in Plastikrohren wuchsen. Aufeinandergestapelt könnten Pilzsteine eine Mauer aus natürlichem Dämmstoff für trockene Räume ergeben. Die Rundkörper könnten vielleicht Heizungsrohre ummanteln und isolieren.

Material für Tische, Stühle oder Lampenschirme

70 Baumpilzarten aus Brandenburgs Wäldern hat Meyer seit einer Sammelaktion im Oktober mit ihrem Team getestet. Der Zunderschwamm stach alle Konkurrenten aus: Er passt sich beim Wachsen auf Nährboden samt Wasser jeder Form an, die ihm vorgegeben wird. Dann verdichten sich die Zellen so lange, bis die Forscher eingreifen und das Produkt durch Wasserentzug fertigstellen.

«Theoretisch ist für Pilzdesign jede Form möglich, die zum Beispiel ein 3D-Drucker herstellen kann», sagt Vera Meyer. Der Pilz wachse dann exakt in dieser Form. Möglich seien zum Beispiel Tische, Stühle oder Lampenschirme. «Wenn sie einem nicht mehr gefallen, zerkleinert man sie und wirft sie auf den Kompost.» Wie in der Natur zersetze sich das Öko-Material dann komplett – ganz ohne Deponie oder Müllverbrennungsanlage. Es wären Produkte für eine Wegwerfgesellschaft ohne Reue.

Mittels Gentechnik könnten Pilzzellen so verändert werden, dass Baumaterialien nach Wunsch entstehen, ist Meyer überzeugt. Möglich wäre so zum Beispiel Rigips- oder Styropor-Ersatz. Ihr Traum sei es, irgendwann Häuser aus Pilzmaterial konstruieren zu können – vielleicht erdbebensicherer als heute und ohne zusätzliche Umweltbelastung auch wieder leicht zu entsorgen.

Ausstellung im Berliner Museum Futurium

Völlige Luftschlösser sind solche Ideen nicht. Das neue Berliner Museum
Futurium zeigt in einer Ausstellung schon Baumaterialien aus Naturstoffen, darunter biologischen Zement. Die Methode funktioniere ähnlich wie bei den Organismen, die Korallenriffe bilden. Bei der Herstellung werde deutlich weniger CO2 produziert als bei vergleichbaren Baumaterialien, heißt es. Ein Start-up in den USA vertreibt das Produkt bereits.

Bei der Industrie laufen Pilzforscher Meyer zufolge generell schon offene Türen ein – zum Beispiel mit veganem Pilzleder. Auch an Kleidung aus Pilzzellen wird geforscht. Die größte Hürde bleibt, eine ressourcenschonendere Öko-Produktion in herkömmliche Herstellungsprozesse einzupassen, sie massentauglich und bezahlbar zu machen.

Ob aus ihren Pilzen etwas praxistaugliches werden kann, hänge auch von deutscher Forschungsförderung ab, sagt Meyer. Die will sie beantragen. Und die Zeitachse danach? «Fünf bis zehn Jahre», schätzt die Wissenschaftlerin. «Es ist eine Frage der Manpower.» Das Potenzial der geschätzt sechs Millionen Pilzarten, von denen erst rund 100.000 wissenschaftlich beschrieben seien, hält sie jedenfalls für völlig unterschätzt.

Eines allerdings kommt Meyer bei Pilzen gar nicht in den Sinn: Steinpilze oder Pfifferlinge auf dem Teller. «Ich gehe sehr gern in den Wald. Aber Pilze essen mag ich überhaupt nicht gern.»

Fotocredits: Jörg Carstensen
(dpa)

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