Tübingen – Kurz vor Mittag ist im Hörsaal 21 das Licht aus – jemand schläft darin. Im Foyer vor der Tür stehen Kaffeemaschinen auf dem Boden. An der Wand lehnen Rucksäcke und Körbe mit Lebensmitteln.

Darum herum stehen im Tübinger Universitätsgebäude Sofas und Pappschilder mit Parolen – Zeichen einer Ende November wiederbelebten studentischen Protestkultur in der Stadt am Neckar. Denn seitdem besetzt eine Gruppe von knapp 20 Aktivisten einen Hörsaal der Uni Tübingen. Auf Aufklebern ist der Grund zu lesen: «Fuck this shit. No Cyber Valley!»

Das
«Cyber Valley» ist ein Prestigeprojekt der Landesregierung. Der an das kalifornische «Silicon Valley» angelehnte Name steht für das Vorhaben, in der Region Tübingen-Stuttgart mit den Universitäten beider Städte ein weltweit führendes Forschungszentrum im Bereich künstlicher Intelligenz aufzubauen. Ende 2016 unterschrieb Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) eine Absichtserklärung als Auftakt der Forschungskooperation. Beteiligt sind allerdings nicht nur Politik und Wissenschaft: Neben der Max-Planck-Gesellschaft gehören auch die Konzerne Amazon, Bosch, ZF Friedrichshafen, Daimler, Porsche und BMW zu den Verbundpartnern.

An den Industriepartnern stören sich die
Hörsaal-Besetzer. «Die Wirtschaft ist an Forschungsergebnissen interessiert, die Profite bringen», sagt Jan, einer der Aktivisten. Eigentlich heißt er anders, seinen richtigen Namen möchte er in diesem Zusammenhang aber lieber nicht verbreitet wissen. Er und seine Mitstreiter wollen eine von der Industrie unabhängige Wissenschaft. Der Netzwerkcharakter ist laut Staatsministerium aber gerade der Grundgedanke hinter dem «Cyber Valley». «Davon erhoffen wir uns wissenschaftliche Durchbrüche und eine hohe Gründungsdynamik», sagt Regierungssprecher Rudi Hoogvliet.

«Im Cyber Valley geht es um Grundlagenforschung, nicht um Auftragsforschung», betont eine Sprecherin des Wissenschaftsministeriums. Bahnbrechende Ergebnisse seien möglich – aber nicht garantiert. Im Vorfeld seien deshalb sogar potenzielle Industriepartner abgesprungen. Einfluss darauf, was geforscht werde, hätten die Unternehmen nicht. Vor der Aufnahme neuer Partner werde abgestimmt. Dabei haben die akademischen Partner nach Angaben der Sprecherin gegenüber den Konzernen eine Zweidrittelmehrheit.

Laut Staatsministerium investieren alle Partner im ersten Schritt in Summe 165 Millionen Euro. 7,5 Millionen Euro davon kommen von den Industriepartnern. Von
Amazon fließen nach eigenen Angaben in den kommenden Jahren 1,25 Millionen Euro in Forschungsgruppen im «Cyber Valley». Für den Versandhändler ist maschinelles Lernen eine wesentliche Technologie, um etwa die Nachfrage von Modeartikeln zu prognostizieren, wie eine Sprecherin mitteilt. «Amazon entwickelt Algorithmen, die Vorhersagen für die nächste Saison machen. Das ist wichtig, um die Waren dementsprechend zu bestellen, sie in passender Anzahl vorrätig zu haben und pünktlich liefern zu können.»

Die Kritik der vorwiegend studentischen Besetzer richtet sich insbesondere auch gegen die beteiligten Automobilunternehmen. «Der motorisierte Individualverkehr ist maßgeblich für die Klimazerstörung verantwortlich», ist auf Flyern zu lesen – zwischen halbleeren Plastikeinwegflaschen.

Auch wenden sich die Aktivisten gegen Forschung zu militärischen Zwecken. Die Universitätsleitung widerspricht: «Die Behauptung, die Universität und das Max-Planck-Institut beteiligten sich an Rüstungsforschung, geht völlig an der Realität vorbei», sagt Rektor Bernd Engler.

Auch ein Sprecher von ZF Friedrichshafen zeigt sich verwundert über die Vorwürfe. Das Unternehmen stelle Getriebe für Lastwagen her – die sich auch in Militärfahrzeuge einbauen ließen. Diese Produkte machten aber nur 0,5 Prozent des Jahresumsatzes von 36,4 Milliarden Euro aus. «Uns geht es darum, zum Thema autonomes Fahren zu forschen», sagt er mit Blick auf das «Cyber Valley».

96 Prozent der Gelder, die deutschen Hochschulen jährlich zur Verfügung stehen, kommen vom Staat, wie ein Sprecher des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft sagt. Demnach konnten die Hochschulen im Jahr 2016 bundesweit über insgesamt 35 Milliarden Euro verfügen. Davon seien 1,5 Milliarden Euro Drittmittel aus der Privatwirtschaft gewesen. Er verweist auf Studien, nach denen der Anteil wissenschaftlichen Fehlverhaltens bei privaten Geldgebern nicht höher ist als bei einer Finanzierung aus der öffentlichen Hand.

Was wollen die Hörsaal-Besetzer in Tübingen mit ihrer Aktion konkret erreichen? «Wir erhoffen uns einen Diskurs über das Thema Künstliche Intelligenz, am liebsten einen bundesweiten», sagt Jan. Zumindest auf lokaler Ebene haben sie das erreicht: Das Rektorat der Universität Tübingen organisierte inzwischen eine gemeinsame Podiumsdiskussion mit Aktivisten und Wissenschaftlern.

Fotocredits: Sebastian Gollnow
(dpa)

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